Zweiter Weltkrieg: Was beim "Bromberger Blutsonntag" geschah - WELT (2024)

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Auf die Propaganda seines eigenen Apparates fiel Joseph Goebbels nicht herein. Nur dreimal und ganz knapp erwähnte "Hitlers Lautsprecher" in seinem Tagebuch 1939 die Stadt Bromberg (polnisch: Bydgoszcz) in Westpreußen. Am 5. September vermerkte er: "Graudenz und Bromberg sind gefallen."

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Zwölf Wochen später notierte der Propagandaminister: "Abendfahrt nach Bromberg. Eine schöne Stadt. Hier hat ein erbitterter Volkstumskampf getobt. Aber unser braver Kreisleiter hat sich endgültig durchgesetzt." Und am nächsten Tag hielt er fest: "Kurze Fahrt durch Bromberg. Eine schöne Stadt. Besuch an den Gräbern der ermordeten Volksdeutschen. Dort liegen sie zu Hunderten in langen Reihen. Man muss das sehen, um hart zu bleiben und nicht sentimental zu werden."

So viel Zurückhaltung ist überraschend, denn in den gleichgeschalteten deutschen Zeitungen hatte Goebbels zeitgleich laut trommeln lassen. Die "Deutsche Rundschau" prägte am 8. September 1939 für eine wilde Schießerei in der Stadt fünf Tage zuvor das Schlagwort "Bromberger Blutsonntag"; die Wehrmacht nahm die Vorgänge zum Anlass, eine eigene Untersuchungsstelle einzurichten, die polnische Kriegsverbrechen ermitteln sollte. Sie untersuchte 144 Leichen gerichtsmedizinisch, versäumte aber, eine annähernde Gesamtzahl der Opfer festzulegen.

Goebbels verzehnfachte die Zahl

Dafür nannte das Auswärtige Amt im November 1939 die Zahl von 5437 volksdeutschen Opfern polnischer Übergriffe in und um Bromberg während der ersten Septembertage; Goebbels verzehnfachte die Angabe drei Monate später und das Reichsinnenministerium ordnete an, "diese Zahl" sei "als allein verbindlich anzusehen und nur von dieser Zahl ist in allen Verlautbarungen, Reden usw. auszugehen".

Bis in die Neunzigerjahre hinein gehörte der "Bromberger Blutsonntag" zu den gängigsten "Argumenten" von Rechtsextremisten, um Polen die Schuld am Zweiten Weltkrieg zuzuschieben und die Verbrechen der Wehrmacht zu relativieren. Auch heute noch sind auf NPD-nahen Websites, zum Beispiel des "Freien Nationalisten Weserbergland", solche Propagandabotschaften zu finden.

In der Frühjahrsnummer der renommierten Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (Oldenbourg Verlag, München. 192 Seiten, 21 Euro) hat jetzt der Osteuropahistoriker Markus Krzoskavon der Universität Gießen alle bisherigen Forschungen bilanziert und neue Erkenntnisse aus den Beständen des Herder-Institut hinzugefügt. Nachdem die Instrumentalisierung des "Blutsonntags" durch die NS-Propaganda jahrzehntelang eine genaue Klärung der Ereignisse unmöglich gemacht hatte, ebenso wie die Konfrontation im Kalten Krieg und die "tief eingefressenen Ressentiments auf beiden Seiten", erlaubt Krzoska Aufsatz jetzt eine mindestens annähernde Rekonstruktion der Zahl deutschen Opfer.

Gerüchte in Bromberg

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Die Vorgänge am 3. und 4. September 1939 sind verworren. Nachdem die Wehrmacht am 1. September gegen fünf Uhr morgens (nicht um 5.45 Uhr, wie Hitler in seiner berühmt-berüchtigten Rede am selben Vormittag behauptete) die Grenze überschritten hatte, befand sich die polnische Armee in einem Schockzustand.

An einigen Frontabschnitten kämpften die vergleichsweise altertümlich ausgestatteten Soldaten gegen die schnell vorstoßenden deutschen Truppen, an anderen suchten sie ihr Glück in der Flucht. In Westpreußen stieß die 3. deutsche Infanteriedivision auf die Pommerellen-Armee und zerschlug sie südlich von Danzig.

Angesichts dessen befürchteten die Zivil- und Militärbehörden in Bydgoszcz eine rasche Besetzung ihrer Stadt und stellten eiligst eine Art Bürgerwehr aus Freiwilligen auf. Schon am 2. September gab es die ersten Opfer: 25 Zivilisten starben beim deutschen Bombardement des Bahnhofs. Die Stimmung in der Stadt heizte sich auf. Rasch strömten zudem polnische Flüchtlinge nach Bydgoszcz, sowohl Soldaten aus zerschlagenen Einheiten wie auch Landbewohner.

Chaos durch Warnschüsse

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Auf der zentralen Danziger Straße stauten sich am Sonntag, dem 3. September 1939 Hunderte Fuhrwerke und wahrscheinlich Tausende Menschen. Gerüchte machten die Runde, von Gräueltaten der vorrückenden Deutschen war die Rede – wie beinahe in jedem Krieg.

Gegen Mittag sorgten Geräusche, die wie Schüsse klangen, für Panik unter den dicht gedrängten Menschen. "Pferde gingen durch, ein Wagen traf einen Hydranten und es entstand eine meterhohe Wasserfontäne. Soldaten versuchten dem Chaos durch Warnschüsse Herr zu werden, was jedoch erst nach einer halben Stunde gelang", beschreibt Krzoska die Lage.

Sofort danach kochte die Gerüchteküche hoch – auch das ist ein in solchen Situationen ganz normales, vielfach belegtes Phänomen. Angebliche Augenzeugen berichteten, von den Türmen der evangelischen Kirchen aus hätten "deutsche Diversanten" das Feuer auf Polen eröffnet. Solche unbelegten Behauptungen wurden "zum Auslöser einer Hetzjagd auf einheimische Deutsche, die sich in verschiedenen Wellen bis zum darauf folgenden Tag fortsetzte und zahlreichen Menschen das Leben kostete".

Heikle Augenzeugenberichte

Wirklich geklärt werden konnte nie, woher die Geräusche gekommen waren und ob es sich tatsächlich um Schüsse handelte. Es können eingeschleuste deutsche Provokateure gewesen sein. Ebenso möglich wäre ein Aufstand lokaler Volksdeutscher oder eine aus Hysterie entstandene Panik. Vielleicht waren es auch nur ein paar aufgeregte Jungs, die sich Waffen aus den Schränken ihrer Väter geholt hatten und meinten, Krieg spielen zu müssen.

Zu Recht schreibt Krzoska nach der Durchsicht der reichlichen deutschen, vor allem aber polnischen Unterlagen und Untersuchungsberichte: "Die Glaubwürdigkeit vermeintlicher oder tatsächlicher deutscher wie polnischer Augenzeugenberichte ist auch wegen ihrer recht späten Entstehung nach dem Krieg sicher nur mit Vorsicht zu beurteilen." Weder die Ermittlungen des bald nach der deutschen Besetzung der Stadt eingerichteten Sondergerichts Bromberg sind zuverlässig noch die bis in die Neunzigerjahre von polnischer Seite verbreiteten Behauptungen.

Auf jeden Fall jedoch entstand am 3. und 4. September 1939 "angesichts des Vormarsches der Wehrmacht und des ,Sieges’ des Nationalsozialismus eine Eigendynamik, die in dem rechtsfreien Raum, der die Stadt Bromberg in jenen Tagen war, von niemandem zu stoppen war".

Mehr als 400 Tote

So weit fasst Markus Krzoska die vielfältige Forschungslage zusammen. Darüber hinaus geht er jedoch bei der Analyse der Opferzahlen. Der Historiker hat alle verfügbaren Berichte ausgewertet und Listen zusammengestellt. Interessanterweise kommt er zu dem Ergebnis, dass die Opferzahl gegenüber der letzten Darstellung von 2008 leicht nach oben korrigiert werden muss.

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Natürlich sind sowohl die willkürlich gegriffene Propagandazahl von 58.000 deutschen Opfern polnischer Übergriffe als auch die wenigstens teilweise dokumentierte Angabe von 5437 volksdeutschen Toten viel zu hoch – das überrascht nicht. Andererseits liegen die seit den Achtzigerjahren in Deutschland veröffentlichten Schätzungen von 178 bis 365 Toten offenbar zu niedrig.

Durch den Vergleich aller verfügbaren Quellen wie Einwohnerregistern und Kirchenbüchern sowie den namentlichen Abgleich verschiedener Opferlisten kommt Krzoska zum Ergebnis, "dass die Zahl der beim ,Bromberger Blutsonntag’ Getöteten vermutlich 400 überschritten hat".

Allerdings muss man berücksichtigen, dass darunter viele Opfer waren, die polnische Namen und Papiere hatten, gleichwohl aber aus volksdeutschen Familien stammten. Eine exakte Zahl der Toten des 3. und 4. September 1939 in Bromberg selbst wird sich wohl nicht feststellen lassen. Auf jeden Fall aber gibt es nun eine solide Analyse dieses so lange instrumentalisierten Geschehens, auf die sich Deutsche und Polen gemeinsam stützen können.

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Author: Stevie Stamm

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